Aktuell wird Goethe’s Faust im Wiener Volkstheater aufgeführt, inszeniert von Kay Voges. Einleitend angekündigt wird das Stück mit einem Zitat von Henri Cartier-Bresson:
„In der Fotografie ist, wie anderswo auch, der Augenblick seine eigene Frage und gleichzeitig seine Antwort.“
Ein Live-Fotograf ist Teil des Ensembles. Grund genug, mir das einmal genauer anzuschauen, wenn man schon mal in Wien ist… Ich sitze also im prunkvoll gestalteten Volkstheater im roten Samtsessel und bin gespannt. Das Buch Faust 1 hat mir als junge Erwachsene sehr gefallen, ich mochte die Sprache, die Mystik und doch weltlichen Themen von Liebe, Wissen und Lebenssinn. Das Werk Goethe’s Faust ist auf den Bühnen dieser Welt kein unbekanntes Stück und umso freier wird es inszeniert und in unsere Zeit übersetzt werden dürfen oder auch müssen.
Eingeführt wird der Fotograf Marcel Urlaub bereits am Anfang des Stückes mit dem Vorspiel im Theater. Wer sich nicht mehr an seine Abizeit erinnert: Theaterdirektor, ein Dichter und die Lustige Person streiten über ein gelungenes Theaterstück. Der Fotograf läuft zwischen ihnen hindurch (oder war er einer der drei Figuren?). Er trägt legere, moderne schwarze Kleidung, spricht nicht. Mit hellen Blitzen und Soundeffekt fotografiert er ins Publikum. Die plötzliche Helligkeit überrascht. Ein Raunen im Publikum. Man reibt sich die Augen und ist gleich wieder hellwach.
Der Schauende wird als Foto selbst zum Teil des Schauspieles
Bald darauf werden die fotografierten Gesichter des Publikums Meter groß auf eine Leinwand auf der Bühne projiziert. Ein Lachen und Staunen geht nun durch das Publikum. Das Foto zeigt die unterschiedlichen Gesichter und ihren Ausdruck in dieser ungewöhnlichen Situation: sitzend im Theater und nicht darauf gefasst, etwas zum Bühnenstück beizutragen oder im sicheren Theatersessel fotografiert zu werden. Nun wird der Schauende als Foto selbst zum Teil des Schauspieles. "Glotzt nicht so romantisch" scheint es dem Publikum hier entgegen zu rufen, auch ihr seid gemeint, auch ihr seid in diesem Moment; wart in diesem Moment.
Fotografie statt Schauspiel
Im Verlauf des Stückes findet die Fotografie auch Verwendung um die Schönheit Gretchens (in dieser Inszenierung von 3 bis 4 Personen gespielt) darzustellen oder gar eine mit Rockmusik unterlegte Orgien-Szenen mit Faust und den vielen Gretchens intensiv zu inszenieren: Die Fotos, jedes für sich ein eigenständiges Bild, jedes neu gedacht und gestaltet - lassen auch eine ganze Szene mit Fotografie ersetzen bis wieder der Schauspieler-Faust hinter der Leinwand mit offenem Hemd hervor taumelt und den Erzählstrang auf der Bühne übernimmt.
Noch weitere Spielarten für die Verwendung der Fotografie finden sich im Laufe des Stücks, als Parallelerzählung, als Bühnenbild und vieles mehr. Wer es erleben will muss das Stück sich noch selbst ansehen ;)
Ein neues Motiv für das alte Stück
Das Buch enthält sicher viel Stoff für zeitgenössische Anknüpfungspunkte, doch hier die Fotografie ins Spiel zu bringen ist für mich mehr als visuelles, zwanghaft modernes Konzept. Die Parallelen von Faust und Fotografie haben für mich Substanz. Nach vielseitigem Durchdenken hält es stand und fügt etwas unweigerliches Zeitgenössisches zur Interpretation des Stückes aber auch der Fotografie hinzu.
Der alte Doktor Faust hat alles studiert, Wissen aus so vielen Fachbereichen angesammelt und ist doch nicht zufrieden. Er ist verzweifelt auf der Suche nach dem Sinn und Genuss des menschlichen Lebens. “Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“ Mit diesen Worten geht Goethe den Pakt mit Mephisto ein.
Doch wir alle wissen, nichts auf dieser Welt ist ewig. Der schönste Moment ist nicht ewig. Eine Fotografie vermag die Erinnerung und Emotion wachrufen – doch der Intellekt versteht: das ist vergangen. Trotzdem häufen wir heute Bilder an, wie Faust das Wissen. Für mich eine scharfsinnige Parallele und gesellschaftliches Statement das faustische Streben der Aufklärung in das heutige Medienzeitalter zu übersetzen. Der Mensch – knapp 200 Jahre nach Erfindung der Fotografie und knapp 200 Jahre nach der Erstaufführung des Faust – er strebt mit Instagram oder dem Pakt mit dem Teufel, mit Fotografien oder mit Wissen gegen seine eigene Vergänglichkeit und die des Augenblicks an.
Unbedingt ansehen und den Selfie-Stick nicht vergessen!
LINK zur Website des Volkstheaters
Ist Fotografie als Massenphänomen unser heutiger Versuch all das menschliche Streben und die Vergänglichkeit festzuhalten? Kann denn Fotografie den (schönen) Moment festhalten? Kann Fotografie Lebenssinn geben? Hätte Goethe das Opus Faust nie geschrieben, wenn er die Fotografie gekannt hätte? Wäre Faust heute Fotograf, Influencer und digitaler Nomade mit Barista Kenntnissen? Wäre Faust heute verzweifelt darüber, wie viele Fotos er schon auf seiner Festplatte hat, aber noch immer nicht die ganze Welt gesehen hat und immer noch die Momente des Lebens vergänglich sind und er nie "ankommt"?